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Ein Kriegsparlamentär

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Am 22. Juni 1941 legte der Student Wladimir Gall sein letztes Staatsexamen an der Moskauer Hochschule für Linguistik ab. Als bestem Absolventen wurde ihm vorgeschlagen zu promovieren. Aber im Hof der Hochschule ertönten über den Lautsprecher bereits die unheilvollen Worte Molotows, dass der Feind unsere Grenzen überschritten hat, nachdem er uns den Krieg erklärt hat. Und so meldete sich der gesamte Jahrgang der Absolventen als Freiwillige zum Dienst an der Front. Wladimir Gall kam zuerst in eine Flak-Kompanie. 1942 traf er dann in Moskau zufällig seinen Lieblingsprofessor für deutsche Literatur, Lew Kopelew, der ihn buchstäblich an der Hand nahm und ihn in die Übersetzungsabteilung der Politischen Hauptverwaltung abschleppte. Und so begann seine weitere Mission als Kriegsparlamentär.

 

Die sowjetische Siegesfahne über dem Reichstag war bereits durch die beiden Sergeanten (Feldwebel) Jegorow und Kantaria gehisst worden. Die 47. Armee bewegte sich in Richtung Brandenburg. Auf dem Weg dorthin stand die Zitadelle Spandau, in der sich SS-Fanatiker verschanzt hatten, auch friedliche Einwohner verblieben waren. Ein Sturm der Zitadelle hätte Hunderte neuer Opfer bedeutet. Der Kommandeur der Armee ernannte zwei Parlamentäre, einer von ihnen war Hauptmann Wladimir Gall.
 

Die Tore der Zitadelle waren verschlossen. In etwa zwei Metern über unseren Köpfen befand sich ein Söller, von dem aus unsere Verhandlungen begannen, erinnert sich der Parlamentär. Es erschien uns aber nicht angemessen, aus dieser Position heraus zu verhandeln. Daraufhin wurde eine Strickleiter herabgelassen. Wie bei Shakespeare, dachte ich, als ich hinaufkletterte, nur dass wir keine Liebeserklärung machen würden. Dann eine kurze Begrüßung: sie strecken die rechte Hand aus, wir erweisen die Ehrenbezeigung. Wir erklären, dass die sowjetischen Truppen vor Brandenburg stehen und Berlin praktisch eingenommen ist, Widerstand also sinnlos ist. Unter der Bedingung Ihrer Kapitulation garantieren wir ihnen ihr Leben, medizinische Hilfe für die Verwundeten, und dass die hohen Offiziere ihre persönlichen Waffen behalten können.
 

Der Kommandant der Zitadelle Oberst Jung verspricht uns, unsere Vorschläge den Offizieren in der Festung zu übergeben, und in Begleitung eines Offiziers verlassen wir den Söller auf dem gleichen Wege, wie wir dorthin gelangt waren.
 

Und hier packte mich die Wut, weil vielleicht alles umsonst war, und auch für mich unerwartet fragte ich den Kommandanten, ob wir nicht selbst mit den Offizieren sprechen könnten.
 

Auf den Spuren dieser Episode in der Kriegsgeschichte drehte der deutsche Regisseur Konrad Wolf später den Film „Ich war neunzehn“. Im Film warnt uns der Kommandant davor, dass SS-Offiziere in der Zitadelle sind und er nicht für unsere Sicherheit garantieren kann. Tatsächlich aber hat er uns gar nichts gesagt, er gab uns nur durch seinen Blick zu verstehen, dass man nicht mit dem Feuer spielen solle. Abermals gelangen wir über den Söller in einen ausgedehnten fensterlosen Raum, in dem wir mühsam einige Offiziere erkennen können, die in Gruppen zusammenstehen. Wir bringen unser Kapitulationsangebot erneut vor. Die Offiziere hören uns schweigend zu und beginnen, sich zu besprechen. Wir können nicht hören, worüber sie sprechen, spüren aber, dass der Kommandant für die Kapitulation ist, die meisten der sehr jungen Offiziere aber dagegen sind. Äußerst korrekt antworten sie uns alsbald: „Sehr geehrte Herren russische Offiziere, wir wissen Ihren Mut zu schätzen, dass Sie sich dazu entschlossen haben, zu uns in die Zitadelle zu kommen, um ein weiteres Blutvergießen zu verhindern. Als deutsche Soldaten haben wir aber unserem Führer geschworen, Deutschland bis zuletzt zu verteidigen. Wir versprechen Ihrem Kommando, dass wir nicht das Feuer gegen Ihre Truppen eröffnen werden, und dass wir die Brücke nicht unter Beschuss nehmen werden. Und Sie Ihrerseits versprechen uns, dass Sie die Zitadelle Spandau nicht stürmen werden. Sollten wir von unserem Kommando den Befehl zur Kapitulation erhalten, so werden wir diesem Befehl Folge leisten.“
 

Solche Bedingungen diktierten sie uns. Das können wir aber nicht annehmen. Ein Krieg ist doch kein Kinderspiel. Keiner kann dafür garantieren, dass nicht ein Beschuss beginnt aus irgendwelchen strategischen oder anderen Erwägungen. „Glauben Sie uns,“ antworten wir, „dass unsere Truppen in der Lage sind, die Zitadelle binnen kurzer Zeit einzunehmen. Wir geben Ihnen drei Stunden Bedenkzeit, um zu entscheiden, worin die Pflicht deutscher Offiziere besteht: Hunderte Leben unschuldiger Alter, Kinder und Frauen zu opfern oder deren Tod zu verhindern. So können Sie deren Leben retten und das Leben Ihrer Soldaten für ein dann schon neues Deutschland.“ Es folgte eine bedrückende Stille. Nach diesen Worten machten wir kehrt und gingen zum Söller zurück, wobei wir die Blicke der SS-Leute in unserem Rücken spürten, voll von Hass, Angst und Verzweiflung.

 

Die drei Stunden zogen sich dann unerträglich lange hin. Die Zeit sollte bis um 15 Uhr ablaufen. Das Warten war kaum noch auszuhalten. Als ich auf die Uhr schaue, ist es 14:59 Uhr. Und da ruft unser Soldat: „Sie kommen, sie kommen!“ Ich steige aus dem Schützengraben heraus. Mit deutscher Pünktlichkeit bewegen sich Kommandant Jung und sein Stellvertreter Oberleutnant Koch mit einer weißen Fahne genau um 15 Uhr auf unsere Seite zu.
 

„Herr Hauptmann, die Zitadelle …“, seine Stimme setzt aus, „ergibt sich“. Ich selbst muss mich sehr zusammenreißen, um meine Ergriffenheit zu zügeln. „Na gut. Dann kommen wir jetzt zu den organisatorischen Fragen zur Übergabe der Zitadelle Spandau.“
 

Ein paar Stunden später gelangen wir nicht mehr über den Söller, sondern durch die geöffneten Tore in die Zitadelle. Die Kolonnen der Kriegsgefangenen verlassen langsam Spandau. Oberleutnant Koch sagt uns zum Abschied in reinem Russisch: „Wir möchten uns von Ihnen verabschieden, Herren Offiziere. Wundern Sie sich nicht, dass ich Russisch spreche, ich habe viele Jahre in Leningrad gelebt.“
 

Auf dem Hof verblieben Hunderte Alter, Frauen und Kinder, Einwohner von Spandau und Angehörige deutscher Kriegsgefangener, Offiziere und Soldaten. In ihren Gesichtern ist nur Angst vor den russischen „Barbaren“: Was erwartet uns? Der Tod? Sibirien? Über einen Lautsprecher geben wir bekannt, dass die friedlichen Einwohner die Zitadelle ungehindert verlassen und nach Hause gehen können.
 

Eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm kommt zu uns heran und bedankt sich mit Tränen in den Augen: „Danke! Ihr habt unsere Kinder gerettet!“
 

Viele Jahre später wurde Wladimir Gall als Ehrengast nach Deutschland eingeladen. Nach dem offiziellen Teil kam ein elegant gekleideter Deutscher auf ihn zu und sagte: „Herr russischer Offizier, Sie werden sich natürlich nicht an mich erinnern, aber ich habe Sie nicht vergessen. Und jetzt möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie mir im Mai 1945 das Leben gerettet haben. Ich war einer der deutschen Soldaten, die sich in der Zitadelle Spandau verschanzt hatten.“
 

Im Film von Wolf spielte der damals noch junge Schauspieler Wassili Liwanow die Rolle des Parlamentärs Wladimir Gall. Deshalb erklärte Galls kleine Enkeltochter den Bekannten nur allzu gern, dass Sherlock Holmes ihren Großvater gespielt hat. Der psychologischen Spannung nach könnte die Episode in Spandau durchaus mit diesem interessanten Kriminalfilm konkurrieren. Allerdings brauchte man damals, im Mai 1945, den Feind, den Verbrecher, nicht zu suchen; man musste ihm eine Chance für ein neues Leben geben …
 

Marina Lewandrowski

(Übersetzt von Ehrengard Heinzig)

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